Keine Gewalt gegen Mensch, Tier und Pflanze: Alles hat Teil am Wachsen

Autor*in:  Image of Kurt TitzeKurt Titze
Veröffentlicht: 11.04.2015
Aktualisiert: 02.07.2015

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Parasnath Hill in Bihar, der heiligste Berg der Jaina

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Mangi-Tungi

Alles hat Teil am Wachsen

Daß auch Stein und Fels wachsen, ist leicht einsehbar, steigt man die dreitausendfünfhundert Stufen zu den beiden Felsnadeln Mangi und Hingi hinauf (auf dem obigen Bild ist nur der Tungi zu sehen). Das Ziel der Pilger sind eine Reihe von Höhlentempeln mit sehr alten Jina-Skulpturen am Fuße der beiden Felsformationen.

Auch die vielen einsam gelegenen Tempel der Jaina muten einen an, als hätte sie die Erde hervorgebracht. Auch das Heilige, das von diesen Stätten ausgeht, ist gewachsen und wächst noch immer. Heißt es doch bei Hermann Keyserling in seinem »Reisetagebuch eines Philosophen«: »Heilige Stätten gewinnen auf die Dauer eine Atmosphäre, die auch den ergreift, der in unheiliger Stimmung hinzog. Und diese ihre weihende Kraft wächst mit der Zeit. Sie werden allmählich zu Gnadenbornen. Wer eine altgeheiligte Pilgerstraße in gläubiger Verfassung durchmißt, dem kann es geschehen, daß er sich an ihrem Ende seelisch weiter befindet, als ihn sonst Jahre innerer Arbeit gebracht hätten.«

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MAHAVIRA

1

Wahrlich, ich sage: dies pflanzliche Sein hat Teil am Werden, unser menschliches Sein hat Teil am Werden; das eine hat Teil am Wachsen, das andere hat Teil am Wachsen; dieses ist voll Leben, jenes ist voll Leben; dieses vergeht, wenn es abgeschnitten wird, jenes gleichfalls; dieses sammelt Stoff um sich, jenes gleichfalls; dieses ist vergänglich, ohne Dauer, leidet Zunahme und Abnahme, und jenes desgleichen.

Wahrlich, ich sage: folgender Art sind die Tiere, die sich frei bewegen. Sie kriechen aus dem Ei, sie werden fertig geboren, sie kommen mit der Eihaut zur Welt; sie entstehen in Feuchtigkeit, im Schweiß, durch Gerinnung der umgebenden Substanz; sie erscheinen aus dem Schöße der Erde.

Für alle niederen Tiere, alle Gewächse, alle höheren Wesen, alles sonstige Lebende ist die unvollkommene Erlösung unlieb, eine große Furcht ein Leid, so sage ich. Es beben die Wesen vor Furcht aus allen Richtungen her und in allen Richtungen. Es heißt ja: »Überall verursachen Wesen Pein, die selbst Pein empfinden.«

2

Es gibt Wesen, blind in der Finsternis, die man belebte Erd-Wesen nennt. Es gibt Wesen, die im Regen herabfallen, die in Feuchtigkeit leben, die im Wasser leben, die in der Luft fliegen - Wesen bedrängen Wesen: siehe, das ist die große Gefahr in der Welt. Reich an Leid sind fürwahr die Geschöpfe, denn in Begehren befangen sind die Menschen. Mit schwächlichem Leibe gehen sie auf Totschlag aus; elend, selbst reich an Leid, wirkt der Tor dergestalt; obwohl sie diese Leiden als zahlreich erkannt haben, verursachen diejenigen Pein, die selbst Pein empfinden. Das o Mönch, siehe, ist die große Gefahr: man soll niemand zu Schaden bringen.

3

Die Fähigkeit, befreit zu werden, Jayanti, ist den Seelen von Natur eigen, sie wird nicht erworben. Alle zur Erlösung bestimmten Seelen werden an dies Ziel gelangen. Wenn das aber der Fall ist, so wird die Welt doch nicht ohne zur Erlösung bestimmte Seelen sein, ebenso wie eine durch den ganzen Raum reichende, anfang- und endlose, von ihresgleichen rings umgebene Reihe von Atomen und Aggregaten, die aus Atomen bestehen, in jedem Zeit-Punkt zwar gemindert und doch im Laufe von unendlich vielen aufsteigenden und absteigenden Halbdrehungen des Zeitrades nicht erschöpft wird.

4

Alle Seelen mit Ausnahme der erlösten verkörpern sich neu aus eigenem, nicht aus fremden Vermögen, gemäß eigenem, nicht gemäß fremdem Karman, kraft eigener, nicht kraft fremder Betätigung.

5

Die Seelen führen es selbst herbei, daß sie sich verkörpern, und zwar infolge des Aufgehens des Karman, der Schwere des Karman, der Last des Karman, des Vollgewichts des Karman, durch das Aufgehen, Reifen und Fruchttragen unguter, guter, gutunguter Werke.

6

Wie eine Netzmasche, die in der Reihe, ohne Zwischenraum, aufschließend und folgerichtig angereiht ist, in Schwere, Last, Vollgewicht und Dichte je auf das anschließende Teil wirkt, ebenso wirken bei jeder einzelnen Seele in vielen Tausenden von Wiederverkörperungen viele Tausende von Lebensformen in Schwere, Last, Vollgewicht und Dichte je auf das anschließende Leben.

7

Höret von mir die Namen und im Wege des Vergleichs die Farben (= Lesya), die den Seelen zugeordnet sind je nach Art und Menge ihres angesammelten Karman-Stoffes. Schwarz, blau, grau, rot, gelb und sechstens weiß: das sind die Namen der Reihe nach.

Ein Mann, der auf Grund des Zu-Flusses handelt, den die fünf Sinne bewirken, der in den drei Betätigungen von innerem Sinn, Rede und Körper nicht auf der Hut ist, der den sechs Lebensformen zu schaden nicht abläßt, zu schmerzbringenden Unternehmungen neigt, der gemein, gewalttätig, erbarmungslos, grausam, ein Knecht seiner Sinne ist - als solcher sich betätigend, bewirkt er schwarze Lesya.

Neid, Zorn, Genußsucht, Unwissenheit, Trug, Un-bescheidenheit, Gier und Haß - ein Mann, der diese Eigenschaften hat und boshaft, unachtsam, vergnügungssüchtig und eigennützig, gemein, gewalttätig ist, von Unternehmungen nicht abläßt - als solcher sich betätigend bewirkt er blaue Lesya.

Krumm in Rede und krumm im Lebenswandel, niedrig, nicht rechtschaffen, unaufrichtig, betrügerisch, irrgläubig, unedel, ein Geschichtenerzähler und übler Nachredner, ein Dieb und Neider - als solcher sich betätigend bewirkt man graue Lesya.

Demütig, stetig, ehrlich, nicht neugierig in Zucht, beherrscht, Betätigung freilich noch anwendend, aber dem Fasten ergeben, die Lehre des Jina liebend und fest in ihr stehend, Verbotenes fürchtend, das Förderliche suchend - wer als solcher sich betätigt, bewirkt rote Lesya.

Wer Zorn und Stolz, Trug und Gier klein gemacht hat, sein Gemüt zum Frieden gebracht hat, sein Selbst beherrscht, Betätigung freilich noch anwendet, aber dem Fasten ergeben ist, wenig spricht, friedlich ist und seine Sinne im Zaum hält - wer so sich betätigt, bewirkt gelbe Lesya.

Wer nicht mehr trübseligen und bösen, sondern ausschließlich frommen und reinen Gedanken nachhängt, sein Gemüt zum Frieden gebracht hat, sein Selbst beherrscht, fertig ist und in den drei Arten der Zucht steht, mag er von Leidenschaft noch nicht ganz frei sein oder doch, wer friedlich ist und seine Sinne im Zaume hält - wer so sich betätigt, bewirkt weiße Lesya.

Man wird neu verkörpert unter Wesen mit derjenigen Lesya, deren Atome man aufgenommen hat, wenn man stirbt.

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Baum der sechs Seelenfarben (Lesyas).

Ein beliebtes Bild in Tempeln und Lehrbüchern der Jaina. - Sechs Männern gelü­stet es nach der Frucht des Mangobaumes. Der mit schwarzer Seelenfarbe schreitet, um an die Früchte zu kommen, zum Fällen des Baumes; der mit blauer Lesya hackt einen großen Ast herunter; der, dessen Seele grau eingefärbt ist, will sich einen kleineren Ast absägen; der von roter Seelenfarbe bricht mit der Hand kurze Zweige ab; der Mann mit gelber Seele pflückt sich eine Mango; der sechste, dessen Seele weiß ist, wartet geduldig auf die Frucht, die von selbst vom Baume fallt: er beachtet das Gebot, nichts zu nehmen, was nicht gege­ben ist.

 

Quellen
Titel: Keine Gewalt gegen Mensch, Tier und Pflanze
Verlag: Zerling Clemens, Berlin
Ausgabe: 1993
Umschlaggestaltung: Klaus Esche

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Die sinngemāße ūbersetzung des Sanskrit-Textes auf dem Umschlagbild lautet:

Mit der Absage an die Gewalt stirbt die Feindschaft zwischen den Lebewesen

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