Geheimnisse des Geistes: Entwicklung der Widerstandskräfte : Selbstdisziplin (2)

Veröffentlicht: 03.09.2012

Wir müssen uns gegen alles Störende wappnen und gewohnheitsbildende Handlungen sorgsam vermeiden. Das bezeichnen wir als Entsagung (Pratyakhyan). Doch ist es viel wichtiger, sich sorgsam damit zu befassen, was aus dem Inneren kommt. Wir müssen die Tiefen unseres Seins reinigen, aus denen sich die substantiellen Ursachen unserer Unruhe generieren. Beschäftigt man sich lediglich mit den instrumentellen Ursachen, finden wir keine dauerhafte Lösung für unsere Probleme. Die Außenwelt verschwindet nicht, wenn wir einfach nur unsere Augen schließen. Wir können sie nicht ständig schließen. Unsere Augen sind die Öffnungen, durch welche die Strahlen unseres Bewusstseins die Welt außerhalb von uns erleuchten. Warum sollten wir sie geschlossen halten? Warum sollten wir Aktivitäten und Funktionen unseres Nervensystems stoppen? Warum sollten wir unseren Geist daran hindern, seine natürlichen Funktionen auszuführen?

Die Beschäftigung mit den instrumentellen Ursachen unserer negativen Haltungen hat nur eine zeitlich begrenzte Erleichterung ihrer Auswirkungen zur Folge, sie befreit uns nicht dauerhaft davon. Beschränken wir unsere Bemühungen nur auf die instrumentellen Ursachen, hätte das eine dauerhafte Lähmung all unserer Aktivitäten zur Folge. Unsere Bestrebungen richten sich jedoch auf die Gesunderhaltung unserer Sinnesorgane, unseres Nervensystems und unseres Gehirns, damit sie uns in unserer spirituellen Entwicklung unterstützen.

Manchne Menschen beginnen aus purer Unwissenheit mit spirituellen Übungen, die ihnen großen Schaden zufügen. Anstatt sich realen Entsagungen zu unterziehen, nehmen sie solche auf sich, die es nur dem Namen nach sind. Sie schwächen ihren Organismus und ihr Nervensystem dermaßen, dass sie sich körperlich zurück entwickeln, anstatt sich spirituell weiterzuentwickeln.

Entsagung im wahren Sinn des Wortes stärkt die Lebenskraft und schmälert sie nicht. Es kann keine Entwicklung des Bewusstseins ohne Entwicklung der Lebenskraft geben. Beides muss parallel zueinander verlaufen. Ziel von Entsagung ist niemals die Schwächung der Lebensenergie, sondern ihre Stärkung. Die Reduzierung der Lebensenergie muss unbedingt vermieden werden, sie steht dem Bestreben jeder Religion entgegen.

Wir müssen die Zentren der Lebensenergie aktiv halten. Das größte Problem des spirituellen Aspiranten besteht darin, die negativen Auswirkungen der instrumentellen Ursachen zu vermeiden. Der Ausweg besteht darin, sich mit den substantiellen Ursachen zu beschäftigen.

Die Menschen heute leben mechanisch ihr Leben. Die Erfindung des Computers beweist die Veranlagung des Menschen zum Mechanischen. Alles und jedes machen Computer, sie schreiben Gedichte, stellen Fragen und liefern gleich die Antworten dazu. Sie lösen die kompliziertesten mathematischen Probleme, errechnen die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse und führen Analysen durch. Worin besteht der Unterschied zwischen dem Menschen und der Maschine? Der Mensch hat eine Seele, die Maschine nicht. Das ist auch der Unterschied zwischen lebendig und nicht lebendig.

Mahavira wurde einmal gefragt, ob die Seele atmet. Er verneinte. Dann wurde er gefragt, ob die Seele denkt. Auch das verneinte er. Danach wurde er gefragt, ob sie isst und trinkt. Auch das verneinte er. Jemand meinte schliesslich: "Woher will man wissen, ob der Mensch überhaupt eine Seele hat? Wenn die Seele nicht atmet, denkt, isst und trinkt, kann der Mensch keine Seele haben."

Gäbe es keine Seele, könnte niemand Selbstdisziplin praktizieren und die substantiellen Ursachen für seine Handlungen in den Tiefen seines Wesens finden.

Wir müssen damit aufhören, unser Leben mechanisch zu leben. Mechanische Handlungen sind nur peripher mit dem Bewusstsein verbunden und werden von ihm nur am Rande wahrgenommen. Damit wir den Unterschied zwischen lebendig und nicht-lebendig begreifen können, müssen wir in die Tiefen unseres Seins hinabsteigen, dorthin, wo wir weder essen, noch trinken, weder denken, noch analysieren, wo wir nichts anderes sind als Erkennende und Wissende. Nur dort stoßen wir auf die substantiellen Ursachen unserer Handlungen, unser mechanisches Leben reicht nicht bis dorthin. In diesen Tiefen begegnen wir dem Wesentlichen der Selbstdisziplin von Angesicht zu Angesicht, denn Selbstdisziplin beinhaltet diesen Zustand der Seele, in dem sie nur erkennt und zugleich weiß. Das Gewahrsein dieses Zustandes bewirkt, dass wir Selbstdisziplin aufrechterhalten können. Verlieren wir dieses Gewahrsein, erleiden wir Rückschläge in unserer Selbstdisziplin und Selbstbeschränkung.

Das Bewusstsein ist auf zwei Bühnen tätig: Es befasst sich mit Objekten zur Befriedigung der Sinne und mit der Wahrnehmung der Seele durch Erkenntnis des Selbst. Während der mechanischen Lebensprozesse orientiert sich das Bewusstsein nach außen und ist auf der Suche nach Objekten, die ihm Sinnesfreuden bieten. 

Das natürliche Tätigkeitsfeld des Bewusstseins ist die Beschäftigung mit seiner substantiellen Grundlage, die Vertiefung in sich selbst. Ist das Netzwerk der mechanischen Prozesse des Denkens und Atmens durchbrochen, kann es sich selbst wahrnehmen und erkennen. Selbstdisziplin liegt substantiell in uns und kann nicht von außen verordnet werden. Je näher die Seele ihrem natürlichen Zustand kommt, desto weniger läßt sich das Bewusstsein durch äußere Faktoren beeinflussen. Verlangen und Unruhe des Menschen lassen die Beeinflussung von außen nur solange zu, wie der Mensch nicht er selbst ist.

Der erste Grundsatz für die Suche nach Selbstdisziplin ist die Beschäftigung des Bewusstseins mit Erkennen und Wissen des Selbst. Der zweite Grundsatz ist die direkte und reine Wahrnehmung mithilfe der Sinnesorgane, wahrnehmen, wie die Augen sehen, die Ohren hören, die Zunge schmeckt, ohne Vorlieben und Abneigungen. Der erste Grundsatz beinhaltet Immunität gegen alle Arten äußerer Einflüsse, der zweite die Befreiung des Bewusstseins von Präferenzen. Das alles wird uns nur möglich, wenn wir uns auf unsere eigene substantielle Natur einlassen. Anderenfalls wird es uns nicht gelingen Selbstdisziplin zu üben, was bedeutet, dass es keinen anderen Weg zur Befreiung vom Gebundensein gibt.

Wie gelangen wir zu unserer substantiellen Natur? Welche Methode können wir anwenden?

Lassen wir einmal für eine Weile die Einflüsse von außen beiseite und beschäftigen uns mit der Frage, ob die Impulse des Nervensystems genetisch bedingt oder vererbt worden sind. Gewöhnlich wird diese Frage damit beantwortet, dass die Impulse des Nervensystems durch die in den alten Überlieferungen Bhavana genannten Übungen und durch psychologische Suggestionen beeinflusst werden können. Die erfolgreiche Anwendung von Bhavanas bei der Veränderung der vom Nervensystem gebildeten Gewohnheitsimpulse ist erwiesen. Die mit den Sinnesorganen verbundenen Hirnzentren können durch die Anwendung von Suggestionen dazu gebracht werden, eine vom Bewusstsein gesteuerte Resonanz anstelle des unbewussten, reaktiven Impulses zu liefern. Zuerst lokalisiert man die mit bestimmten Tendenzen und Impulsen verbundenen Hirnzentren und führt durch systematisch aufeinander folgende Suggestionen die gewünschte Veränderung im Nervensystem herbei. Es ist empfehlenswert, sich die Suggestionen mit leiser und sanfter Stimme einzugeben, denn dieser Bereich ist sehr empfindlich.

Das Wiederholen heiliger Formeln macht in diesem Zusammenhang nur Sinn in Verbindung mit Bhavanas. Man kann Jahre ergebnislos damit verbringen, sich immer wieder zu sagen: "Die Welt und der Körper sind vergänglich." Die gewünschte Wirkung stellt sich erst ein, wenn man mit der Suggestion zusammen das mit der Vergänglichkeit der Welt und des Körpers verbundene Gefühl erzeugt.

Mahavira hat den Begriff Tanmurti geprägt. Das kam so: Man ging davon aus, dass jede Bewegung aus der sich bewegenden Person und der Bewegung selbst besteht. Mahavira bestand darauf, diese Dualität aufzuheben. Die sich bewegende Person sollte sich nicht dessen bewusst werden, dass sie es ist, die sich gerade bewegt, sondern sollte selbstvergessen in der Bewegung aufgehen, eins mit ihr werden und sich des Rhythmus ihrer Bewegung bewusst werden. Diese Verpflanzung des Bewusstseins vom Ego auf den Rhythmus der Bewegung bezeichnete er als Tanmurti. Tanmurti ist eine Methode, mit der wir zu unserem wahren, substantiellen Sein gelangen können.

Bei einer anderen Methode wird man zum unbeteiligten Zuschauer seiner eigenen Neigungen und Tendenzen. Dabei geht es nicht darum, sie zu verändern, sondern um die Wahrnehmung ihres Ablaufs und die Fähigkeit, alle Gedanken, gleich welchen Inhalts, kommen und gehen zu lassen. Die im Unbewussten gesammelten Eindrücke unserer vergangenen Handlungen und Erfahrungen müssen eines Tages ihren Ausdruck finden. Lassen wir sie sich selbst ausdrücken, es genügt, wenn wir sie nicht unterdrücken, sie schaden uns nicht.

In den alten Schriften wurde dieser Prozess, in dem sich die Eindrücke vergangener Handlungen und Erfahrungen in unseren Gedanken ausdrücken, Vipak genannt. Diesen Ausdruck in unseren Gedanken sollten wir unvoreingenommen verfolgen, ohne uns durch positive oder negative Bewertung an sie zu binden. Man lässt Zorn, Verlangen, Gier, Täuschungen, Mordgedanken, Rachgefühle und dergleichen ungehindert in seinem Geist auftauchen, doch verbindet sich weder mit ihnen, noch lässt man sich durch sie beeinflussen. Man bleibt neutral und unvoreingenommen und verfolgt sie, als würde man sich einen Film ansehen. Wer eine derartige Haltung entwickeln kann, wird bemerken, dass sie allmählich eine große Transformation in ihm bewirkt. Alte Denkschemata verändern sich zugunsten eines neuen Bewusstseins und einer neuen Orientierung.

Die Wahrnehmung des Atems ist eine weitere Methode, zum wahren, substantiellen Sein zu gelangen. Das ist riskant wie das Balancieren auf dem Hochseil. Mit jedem Schritt läuft man Gefahr, in den Abgrund zu stürzen. Jedoch dient diese Übung zweifellos dazu, den Geist wachsam zu halten. Ist er erst gut trainiert, wird die Aufführung unseres Films ein Erfolg.

Eine weitere Methode ist Indrya Pratisamlinata. Sie befasst sich damit, die Reizeinwirkungen auf die Sinnesorgane zu reduzieren und erhöht die Konzentration. Doch davon später mehr. 

Quellen
Englischer Titel:
The Mysteries Of Mind Redaktion:
Muni Mahendra Kumar Herausgeber:
Jain Vishva Bharati Ladnun, India 2. Edition: 2002 Übertragung ins Deutsche:
2006 Carla Geerdes
2012 Überarbeitete Fassung
Carla Geerdes

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